Olga Janíčková: Der Kerl Viktor
Rubrika: Publicistika – Co je psáno...
![]() Ich wandere über einen Waldweg in Richtung eines Weihers, der „Na Losich“ genannt wird. Je mehr ich mich dem wohl bekannten Haus meines Freundes Viktor nähere, umso klarer sehe ich vor der Tür sein rotes Auto stehen – vielleicht konnte er dem Ruf des vorzeitig gekommenen Frühlings nicht widerstehen? So ist es! Im Garten brennt und raucht ein Haufen von Blättern und Zweigen, der Frühlingsputz hat begonnen. Vor zwei Wochen hat Viktor seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert. Ich schaue ihn an und frage: „Mensch, Viktor, hast du dich nicht vertan, bist du wirklich neunzig geworden?“ Aus der Tasche nehme ich meinen unentbehrlichen mini – Fotoapparat und mache eine Aufnahme, wie er sich an der Hausmauer anlehnt und grinst. Schaut euch das Bild an – ![]() Viktor und seine liebe Frau Dagmar, genannt Dada haben erfolgreich einen Sohn und eine Tochter erzogen. Daraus ist eine große Familie entstanden – fünf Enkel und fünf Urenkel. Der kleinste Urenkel, noch ein Baby heißt auch Viktor und die ältesten Urenkel sind um die zwanzig Jahre alt – es besteht also eine reelle Möglichkeit für ihn noch einige Ur-Urenkel zu erleben. Ich frage: „Und wo habt ihr deinen Geburtstag gefeiert?“ Die Antwort kommt prompt: „Na doch in Dobris, auf dem Schloss, wo sonst kann ein Viktor Mansfeld seinen Neunzigsten feiern? Jeronym Colloredo-Mansfeld hat mir herzlich gratuliert und mich gelobt, wie viel Ehre ich diesem Namen mache.“ Wir lachen und ich wende ein: „Es ist sowieso verdächtig, dass ihr nicht verwandt seid, ich glaube, dass Du die Stammbäume nicht gründlich genug durchgeforstet hast. Woher sonst sollte so ein Name kommen?“ Viktor denkt ein wenig nach und erinnert sich: „ Vor einigen Jahren waren wir mit Dada in Deutschland und haben während eines Aufenthalts in Halle die Burg Mansfeld besichtigt. Der Kastellan hat mich betrachtet als wollte er sagen „Haben wir uns nicht schon einmal getroffen?“ – und nachdem ich mich vorgestellt habe hat er uns beinahe die Hände geküsst und uns mit Freude auch überall dort geführt, wohin sonnst die Touristen keinen Zutritt haben. Und so ist es gekommen, dass wir vor einer Plastik eines früheren Burgherren, des Albrecht VII. Mansfeld standen. Dada schrie: Viktor, das bist du, schau, die Ähnlichkeit! Dem Kastellan sind Tränen gekommen und beim Abschied hat er uns zum weiteren Aufenthalt eingeladen und versprochen uns in einem Himmelbett schlafen zu lassen.“ ![]() ![]() Das hat mich interessiert: „Und wie hat der Ritter Albrecht ausgesehen?“ Viktor antwortete salopp: „Naja, nach den vierhundert Jahren eigentlich ganz gut. Ich habe mir ein Bild gemacht, ich kann es dir zeigen.“ Aber das hätte er lieber nicht versprochen, denn jetzt wurde ich richtig neugierig und gleich am nächsten Tag habe ich seine Tochter Radka gebeten mir diesen Ritter zu scannen und dazu Viktors Lebenslauf, ein Bild seines Bruders Thomas und weitere Dokumente zu schicken. Radka hat Sinn für Humor, ist die Autorin von zwei Familienchroniken und konnte mir daher alles Gewünschte liefern. Jeder von uns würde gerne wissen wie man psychisch und physisch fit und frisch neunzig Jahre alt werden kann – ich auch. Ich glaube, dass vielseitige Aktivität sehr gut wirkt. Dada ist leider vor drei Jahren gestorben, aber auch sie hat bis zum Ende sehr jugendlich gewirkt, obwohl sie ihr ganzes Leben nur eine Niere hatte. Was für wunderschöne Rosen und Fuchsien konnte sie züchten, die Blumen in ihrem Steingarten strahlten nur vor lauter Zufriedenheit. Sie kannte alle ihre Blumen mit tschechischen und lateinischen Namen und jedes ![]() ![]() Der Chef des Labors, wo Viktor angefangen hat, war Dozent Vlcek, ein Biochemiker von der technischen Hochschule. Dort hat auch Professor Brdicka, Arzt und Diagnostiker gearbeitet. Professor Heyrovsky, späterer Nobelpreisträger hat dort Viktor die Polarographie gelernt. Auch Professor Glazunov, ein naher Verwandter des Komponisten Alexander Glazunov, war dort eingestellt. Es waren dort mehrere solcher wertvollen Menschen und durch sie ist Viktors Studium mit der Schließung der Hochschulen nicht beendet worden, sondern wurde dort fortgesetzt. Auch ein fünfzehnjähriger junger Mann mit dem Namen Rudolf Zahradnik wurde dort als Laborant eingestellt. Aus ihm ist später Dr. Rudolf Zahradnik, DrSC. geworden, der Präsident der Akademie der Wissenschaften. Mit ihm ist Viktor bis heute befreundet. Im Labor wurde 1942 auch ein junges Mädchen eingestellt und Viktor sollte sie mit der Arbeit dort vertraut machen. Sie war ihm schon bekannt, es war Dagmar Krkoskova, mit ![]() Die zuerst freundschaftliche Beziehung zwischen Dagmar und Viktor hat sich im Laufe der Zeit in eine tiefere gewandelt, in eine große Liebe. In Mai 1944 fuhren sie gemeinsam auf eine zehntägige Dienstreise nach Dresden und Leipzig. Es handelte sich um Enzyme, deren Herstellung in Kalcium auf bakterieller Basis entwickelt wurde. In Deutschland wurden sie auf tierischer Basis hergestellt. Es soll gesagt werden, dass die Enzymherstellung auf bakterieller Basis von Dozent Vlcek und Mitarbeiter patentiert wurde. Viktor Mansfeld war einer der erwähnten Mitarbeiter. Kurz danach wurde Dresden nach mehrfacher Bombardierung fast ganz zerstört. Diese Reise haben Dada und Viktor als ihre Hochzeitsreise betrachtet. Am 11. Oktober 1944 haben sie sich für den Vormittag frei genommen, im Prager Rathaus das gegenseitige „ja“ gesprochen, mit ihren Hochzeitszeugen zum Mittag gegessen und am Nachmittag als Eheleute Mansfeld zurück in die Firma gekommen. Am 10. Februar 1945 wurde die Tochter Radvana geboren. Es war eine dramatische Zeit, der Krieg ging dem Ende zu und amerikanische Flugzeuge haben am 13. Februar aus Versehen einige Bomben auf Wenzelsplatz, Karlov und Karlsplatz abgeworfen. Das Krankenhaus, in dem Dada mit ihrer neu geborenen Tochter lagen, wurde auch getroffen. Sie hatte nichts anderes als ihren Morgenmantel zur Verfügung. In den hat sie ihre Neugeborene eingewickelt und eilte im Nachthemd mit der Tochter im Arm in den Schutzbunker. Hier hat sie Viktor gefunden, der die Bombardierung vom Dach des Labors beobachtet hat. Mit Schwierigkeiten hat er sich bis zum brennenden Krankenhaus durchgeschlagen. Wachen haben ihn nicht durchgelassen, aber gesagt, dass die Mütter im Bunker unter Apolinar untergebracht wurden. Dort hat er sie beide auch gefunden, Dada seinen Wintermantel gegeben und nach jemanden gesucht, der sie nach Letna in ihre Wohnung fahren konnte. Und er hatte Glück: In der Nähe des Krankenhauses blieb ein Kleinlaster stecken, dessen Fahrer nicht wusste, wie er aus diesen Chaos herausfinden sollte. Gegen Versprechen von Viktor dass er ihm den Weg aus Prag zeigt hat er sie in ihre Wohnung gefahren. Am Ende waren sie doch glücklich zu Hause und die Oma hat nur gestaunt als sie dort angekommen sind. Sie hat von der ganzen Bombardierung gar nichts mitbekommen. In Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Gleich danach wurden die Hochschulen wieder geöffnet und die Lehrer und Studenten kamen langsam zusammen. Viktor hat es geschafft innerhalb von sieben Monaten die restlichen noch fehlenden Prüfungen abzulegen, um das Studium zu beenden und das Diplom zu erhalten. Er war gut vorbereitet, denn in Kalcium konnte er die ganze Zeit unter Aufsicht von hochgradigen Fachleuten weiter studieren. Die Firma Kalcium war nach dem Krieg nicht mehr lebensfähig und wurde aufgeteilt. Einer der leitenden Angestellten, Gustav Üblaker hat eine eigene Firma gegründet und mit der Herstellung von Vorbehandlungsmitteln angefangen. Die bakterielle Abteilung mit der Herstellung von Enzymen, die zur Produktion von Waschmittel „Per Per“ benötigt waren wurde in letzten Haus der Nerudastraße und im ersten Haus von Uvoz untergebracht. Viktor wurde zum Chef der Abteilung berufen. In den Labors arbeitete auch Rudolf Zahradnik. Er und Viktor haben gemeinsam die ersten Arbeiten über Enzyme veröffentlicht. Am 10. Dezember 1946 erschien bei Mansfelds der Storch und hat den Jungen Tomas geliefert. Die zwei Schwangerschaften und die Sorge um die zwei kleinen Kinder hat Dada daran gehindert die Prüfungen an der Hochschule sofort abzulegen, obwohl sie die erste Staatsprüfung bereits vor dem Krieg absolviert hat. Sie konnte ihr Studium erst nach Tomas’ Geburt beenden und den Titel Diplomingenieur bekommen. 1947, zwei Jahre nach Kriegsende hat der Generaldirektor der Firma Synthesia Viktor die Stelle eines Direktors der chemischen Fabrik in Liberec angeboten. Synthesia war ein großes chemisches Unternehmen mit Fabriken in der ganzen Republik und der Zentrale in Prag. Viktor hat nur ungern angenommen. Später hat sich herausgestellt, dass es keine gute Wahl war. In Februar 1948 wurden alle, auch kleine private Betriebe verstaatlicht. Viktor blieb in der Führung der Firma, aber mit ihm hat jetzt auch die Partei entschieden. Meistens waren sie unterschiedlicher Meinung. Diese Differenzen haben soweit eskaliert, dass man Viktor auf der Basis des sogenannten „kleinen Dekret“ wegen Schädigung des Staats angeklagt hat. Um den störungsfreien Betrieb der Firma zu gewährleisten hat Viktor Holzfässer von einem Privatmann gekauft, der sie aus allen möglichen Brettern, die er auf verschiedenen Deponien fand zusammengebaut hat. In diesen Fässern hat man die flüssige Seife gelagert, ein anderer Hersteller existierte nicht. Viktor wurde wegen Unterstützung des kapitalistischen Regimes angeklagt und als für die junge Republik gefährlich bezeichnet. Wegen diesem Unsinn und noch weiteren zehn Anklagepunkten wurde Viktor zu drei Monaten Arbeit in einem Steinbruch oder Geldstrafe verurteilt. Freunde haben ihm geraten die Geldstrafe anzunehmen, was er auch tat. Ein Teil des Geldes musste er sich leihen, den Rest hat er selbst aufgebracht. Mit Synthesia war er dann fertig. Trotz vielen Schwierigkeiten hat er eine Stelle in der Firma Organofarma erhalten. Die Firma hat Enzyme aus tierischen Organen hergestellt. Aufgrund seiner Erfahrung und trotz des Widerstandes der Parteiorganisation wurde Viktor als Cheftechnologe und technischer Leiter der Fabrik eingestellt. Die Stelle der Leiterin der Qualitätskontrolle bekam sogar Dagmar Mansfeld. In Organofarma hat man auch die Synthese von Pepsinen betrieben, aber sehr primitiv und mit schlechten Ergebnissen. Viktor hat die Herstellung erfolgreich optimiert und unter seinem Namen zum Patent angemeldet. Um sich seinen geliebten Enzymen widmen zu können, wechselte er 1953 in die biochemische Abteilung des Forschungsinstituts für Pharmazie und Biochemie im Stadtteil Vinohrady. Auch Dagmar kam dorthin ins Labor für Analytik. Dort habe Viktor und seine zwei Kollegen durch das Amt für Patente und Entdeckungen bestätigte weitere wichtige Entdeckung gemacht: Als erste und einzige auf der ganzen Welt haben sie festgestellt, das Inhibitoren einiger Enzyme antientzündliche Eigenschaften besitzen. In den sechziger Jahren hatte Viktor zwei Studienaufenthalte in Deutschland, einmal in Halle, einmal in Bonn. Dorthin wurde er von der medizinischen Fakultät der Universität Bonn eingeladen und mit Aufenthaltsstipendium versorgt. Aufgrund seiner zahlreichen Fachpublikationen konnte er an einem biochemischen Kongress in Wien teilnehmen. Der Gesundheitszustand von Dagmar hat sich verschlechtert, nach einer schweren Operation wurde sie 1973 pensioniert. Ein Jahr später bekam Viktor sein wichtigstes, weltweit gültiges Patent für Antilyzin. Dies ist ein Präparat, welches in die Blutgerinnung eingreift und welches in der Herstellung von Medikamenten und auch in der klinischen Applikation Anwendung findet. Und bald danach, in Winter 1974-75 war er wieder am Pharmakologischen Institut der Fakultät für Medizin der Universität Bonn tätig. Die Behörden haben Dada dorthin keine Ausreisegenehmigung erteilt. ![]() Im Jahr 1990 wurden bei Viktor die Stimmbänder operiert. Der histologische Befund hat Krebs bestätigt. Es war eine schlechte Nachricht, aber mit einem guten Ende, denn achtzehn Jahren danach ist Viktor immer noch kerngesund. Er darf zwar nicht schreien, aber das war sowieso nie sein Ding. 1994 haben Dagmar und Viktor mit allen ihren Kindern ihre goldene Hochzeit gefeiert, zehn Jahre später auch das sechzigste Jubiläum. Der Blumenstrauß, den ihr Viktor anlässlich des Jubiläums ins Krankenhaus gebracht hat, begleitete sie auch auf ihrer letzten Reise. Sie ist am 14. Oktober 2004 gegen zwei Uhr früh im Alter von achtundachtzig Jahren gestorben. Wir alle denken an sie oft und gerne. Ich b in davon überzeugt, dass den Titel „Kerl“ beide, Viktor und Dagmar verdient haben. Nicht nur deswegen, dass sie so alt geworden sind, sondern vor allem deswegen wie sie es erreicht haben: auch in den schwierigsten Zeiten in persönlichen und familiären Harmonie, welche wie die Aura alle Menschen um sie beeinflusst hat und Dank Viktor bis heute wirkt. Und wie ist es mit dem Stammbaum? Betrachten Sie das dreifache Foto von Sohn Tomas, den Ritter Albrecht VII. und Viktor. „Was für eine Ähnlichkeit!“ hat früher Dagmar gerufen. Vielleicht ist es nur ein Märchen, es ist nicht wichtig. ![]() Überzetzung: Ctirad Pánek |
Original Illustration für Positiwe Zeitung ©Olga Janíčková
Tento článek byl v Pozitivních novinách poprvé publikován 24. 03. 2008.
Další články autora
OSOBNOSTI POZITIVNÍCH NOVIN
![]() |
RNDr. Vladimír Vondráček |
![]() |
Karel Šíp |
![]() |
Vladimír Just |
![]() |
PhDr. Ing. Zdeněk Hajný |
![]() |
Ivan Kraus |
![]() |
PhDr. Jiří Grygar |
![]() |
Ladislav Gerendáš |
![]() |
Milan Lasica |