Miroslav Sigl: Meine Neuner Erinnerung an lokale Helden

Rubrika: Publicistika – Historie

            

Meine Neuner Erinnerung an lokale Helden

Mein lieber Junge, heute wird leider nichts daraus“ hat mir Herr Doktor Miroslav Dyrhon sofort nach Betreten seines Behandlungszimmers mitgeteilt. Wie konnte ich von ihm diesen einfachen ambulanten Eingriff, zu dem wir uns schon lange vorbereitet haben verlangen, wenn unweit von hier über die Stephansbrücke über die Elbe von Melnik in Richtung Hauptstadt Prag die nazistische Armee mit lärmenden Motoren ihrer Autos und Motorräder zog. Und dazu fiel noch der nasse Schnee.
Ich bin nicht sofort weder nach Hause noch in die Schule zurückgegangen, denn auch den Unterricht hat der Direktor unserer Bürgerschule kurzerhand beendet. Die jugendliche Neugierde meiner Kommilitonen, von ihren Vätern eingeheizt, hat mich auch gepackt. Mit geballten Fäusten in den Taschen und mit dem festen Willen „dass lassen wir den Nazis nicht durchgehen“ haben wir die rollenden Massen beobachtet. Sie waren wirklich Angst einflößend, aber auch sie konnten von unseren Augen Zorn, Widerstand und Trotz ablesen.

Am Abend des 15. März 1939 kam aus Prag ein Kommilitone meiner älteren Schwester. Er hatte schon damals ein Fotoapparat – ich glaube es war eine Spiegelreflexkamera der Marke Voigtländer. Heute ist es nicht wichtig, viel wichtiger waren aber die Aufnahmen die er im Zentrum von Prag gemacht hat. Über den ganzen Krieg hat er den Film versteckt gehalten, erst nach der Befreiung kamen die Bilder ans Licht. Sie wurden in „Mlada Fronta“ bei jedem Jahrestag der Befreiung am 15. März abgedruckt. Im Jahr 1969 wurde ein Aufruf veröffentlicht, damit sich die Menschen von den Bildern melden können, um die damalige Atmosphäre zu beschreiben. Man konnte dort vom Regen durchnässte Menschen sehen, die mit geballten Fäusten den rollenden Massen gedroht haben. Diese suggestiven und aussagekräftigen Bilder des Jaroslav Landa haben damals auch einige ausländische Zeitschriften übernommen. Der Ruhm stieg ihm in den Kopf und er hat angefangen sich mit der Fotographie ernsthaft zu beschäftigen. Er hat einen neuen Fotoapparat – Kodak Retina – gekauft und bei jeder Gelegenheit geknipst. Um schöne Wolken am Himmel zu fotografieren war er bereit einige Kilometer zu laufen. Landa wurde zum Fotochronist unseres Heimatdorfes Obristvi und, hat unter anderem allen Müttern ihre Neugeborenen auf Bild verewigt. In der Firma Spolana Neratovice, wo er gearbeitet hat, hat er ein Archiv von etwa 3000 Bildern hinterlassen. Es wird dort die Entstehung des Chemiegiganten, welches unsere Elblandschaft sowohl gut wie schlecht verändert hat, dokumentiert.

Ich muss aber zu Herrn Doktor zurückkehren, über ihn habe ich meine Erzählung angefangen. Mit seinen beiden Söhnen war ich befreundet, der ältere Mila war ein Mitglied unserer Gruppe „Schnelle Pfeile“. Es ist uns gelungen sie noch vor dem Verbot der Zeitschrift „Junger Herold“ durch die Deutschen zu gründen. Der „Junge Herold“ hat damals die gesamte Jugendbewegung organisiert und nach heutiger Terminologie methodisch gelenkt. Es waren wirklich schwere Zeiten. Herr Doktor Dyrhon hat sich sehr schnell in der Untergrundbewegung gegen die Nazis engagiert. Er war nämlich als Arzt für einen ziemlich großen Bezirk verantwortlich und hat gemeinsam mit dem Tierarzt Frantisek Erban bei ihren Besuchen nach Menschen gesucht, welche für die Widerstandsbewegung geeignet wären. Und dabei haben sie noch Menschen und Tiere kuriert.
Ihre Aktivitäten waren vielfältig: Materielle Hilfe, vor allem Besorgung von Lebensmitteln für viele Bedürftige, Verbindung mit Partisanen in den Wäldern um Kokorin und Repin, das Verstecken von gehorteten Munition und Ausrüstung, geheime Abfertigung von ganzen Eisenbahnwaggons voll mit Kartoffeln und anderen Vorräten für die Partisanen im Eisengebirge, woher die Familie unseres Großgrundbesitzers stammte. Und kurz vor Kriegsende auch noch die Beseitigung der Sprengladungen der Stephansbrücke, über die diesmal die Armee unserer Befreier gekommen ist. Die Nazis haben noch im letzten Kampf geglaubt, dass es nicht passiert und dass die Brücke rechtzeitig gesprengt wird. Aber die Untergrundkämpfer aus unserem Dorf haben es verhindert. Es war ein sehr gefährliches und risikoreiches Unternehmen.

Es sind alles Ereignisse, die Jahrzehnte alt sind. Ich bin überrascht wie fest sich diese Erinnerungen in meinem Gedächtnis eingebrannt haben. Bis heute sehe ich die Bürger – den geliebten Herrn Doktor, einen stillen und bescheidenen Helden, der das Ganze befehligt hat und ohne Tribut im Jahr 1973 gestorben ist, den Förster Stephan Hudik, den adoptierten Vasil Zan, welcher als armer Weise in unseren Dorf von der russischen Karpaten gekommen ist. Die Falken-Vorsteher und Trainer Eda Jilek und Jan Kucera, den Dachdecker, Angler und Jäger Josef Tesarik, den späteren Ortsvorsteher Josef Struha, den furchtlosen Postmeister Kropac, welcher die Briefe von Denunzianten schon im Ansatz liquidiert hat, bevor sie in die Hände der Gendarmen oder – Gott behüte – der Gestapo gelangt sind. Den Antonin Grossmann, welcher den Gutsbesitzer Jiri Havelka öffentlich verteidigt hat, den der höchste kommunistische Bezirkshäuptling ohne Urteil auf einer gusseiserner Laterne des Schlosshofes aufhängen wollte.

Am Sonntag den 6. Mai 1945 sind in Melnik neun Panzer und etwa 60 SS-Männer eingetroffen. Sie haben mit Maschinengewehren auf Barrikaden und auf die Wagemutigen geschossen, die sich unter der Stephansbrücke versteckt hielten. Es ist wahrscheinlich ein Wunder passiert: von den fünfzig beschossenen Personen ist nur die Frau Dvorak gestorben – aber nur deswegen, weil sie sich um nichts geschert hat und schnurgerade zu ihrem Sohn in das Nachbarsdo rf geeilt war.
Am Montag den 7. Mai hat Prag ständig um Hilfe gerufen und überall hat man ungeduldig das geforderte Eingreifen der amerikanischen Armee erwartet, die bereits Pilsen besetzt und sich angeblich in Richtung Prag in Bewegung gesetzt hat. Erst am Dienstag den 8. Mai entspannte sich die Lage, die SS-Männer sind über Nacht verschwunden und der Rest der Deutschen Besatzung hat vor ihrem Abmarsch ein Befehl der Kommandantur erhalten die restlichen Sprengsätze unter der Brücke zu entfernen. Die Straße von Melnik nach Prag war frei und sicher.

Ich habe allen meinen tapferen und aufopfernden Mitbürger in meinem Buch „Persönlichkeiten und Schicksale eines Dorfes“, welches  im Jahr 2000 erschienen ist, Tribut gezollt. Alle davon sind nicht mehr am Leben. Bis dahin haben die Kommunisten ständig nur das Andenken an drei russische Kriegsgefangene Soldaten, welche von nazistischen Antreibern während des Durchmarsches einer ganzen Kolonne von Kriegsgefangenen im Dorf erschossen wurden. Für sie wurde auf dem örtlichen Friedhof ein Ehrenmal errichtet und dort fanden auch die jährlichen Trauerfeierlichkeiten statt. Ich kann nur hoffen, dass mein erleuchtetes Heimatdorf, angeführt von der neuen Gemeindevorsteherin in der Zukunft auch das Andenken an andere ehren wird – zum Beispiel an die ehemaligen jüdischen Mitbürger, welche mit ihren Familien zu Opfern der Gaskammern in Auschwitz geworden sind. Und dass man sich auch an die Mitglieder des nichtkommunistischen, sondern des Falken-Widerstandes erinnert. Und vielleicht wird irgendwo eine einzige Tafel mit den Namen der örtlichen Helden errichtet.

Übersetzer: Ctirad Panek

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Tento článek byl v Pozitivních novinách poprvé publikován 19. 03. 2009.