Lenka Reiner: Das Traumcafé einer Pragerin

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   Česká verze

Traumcafé – über Lenka Reiner

Nachdem ich mich am Schreibtisch vor einem leeren, weißen Blatt Papier mit der Aufgabe eine kurze Einleitung zur Veröffentlichung eines Ausschnitts aus dem Buch von Lenka Reiner „Ein Kaffeehaus hoch über Prag“ niedergelassen habe, fiel mir die Wortverbindung „Brunnen der Unvergessenheit“ ein. Sie ist nicht unbedingt Lenka Reiner gewidmet, aber vielmehr mir selbst und den Lesern von Pozitivni noviny für die Lektüre des veröffentlichen Ausschnitts und anderer Bücher der Autorin. Denn diese besondere Frau erinnert mich an ein kristallklares Brünnlein, aus dem wir das Getränk des Nichtvergessens hätten trinken sollen. Jedes ihrer zehn Bücher ist ein wahrer Brunnen der Unvergessenheit.
Die Schriftstellerin schreibt ihre Bücher in Deutsch und sie werden dann in unsere Sprache übersetzt. In Tschechisch schreibt sie nur gelegentlich Zeitungsartikel. Mit Journalisten und anderen neugierigen spricht Frau Lenka Tschechisch oder in einer der sechs anderen Sprachen, die sie beherrscht. Ihre Prosa ist einzigartig. Sie formuliert sehr genau und doch dichterisch das Leben und alles, was sie erlebte und erlebt bis in die kleinste Einzelheit. Ungewöhnliche Begegnungen mit einfachen Menschen findet sie gewöhnlich und viel mehr aufregend als irgendwelche offizielle Veranstaltungen. Sie erfreut sich an Kleinigkeiten und setzt sie zusammen zu großen Bildern der Wahrheit und der Handlungen, welche zwar stattgefunden haben, aber noch nicht abgeklungen sind. Sie schreibt, um nicht zu vergessen und greift dabei in die Vorratskammer der Erlebnisse ihres Herzens, ihrer Seele und ihres Intellekts. Frau Lenka Reiner ist eine feinfühlige Seele und sehr sensitiv. Sie nimmt das Leben aufmerksam wahr und bezeichnet es als manchmal sonderbar und manchmal ziemlich schwer zu begreifen.
Ihr Schicksal und Verlauf ihres Lebenslaufes ist ausgedruckt und eingemeißelt in einem inzwischen geläufigen Spruch: „Das Leben ist eines der schwersten.“ Ihr Leben wurde mit Sorgen ausgefüllt, aber hat sie trotzdem nicht gebrochen. Sie ist stark, ungebrochen geblieben und kann durch ihr Schaffen in die Seelen ihrer Lesern Hoffnung und wahre Einblicke in alles, was war und was jetzt passiert einfließen. Absichtlich möchte ich hier nicht ihr Lebenslauf erwähnen, es ist hinreichend bekannt beschrieben durch viele Journalisten und Redakteure von Kulturrubriken anlässlich ihres Jubiläums und der zahlreichen Auszeichnungen und Würdigungen für ihre Verdienste um in Deutsch geschriebene tschechische Literatur und für ihre Standhaftigkeit als Bürgerin in allen Etapen ihres Lebens. Frau Lenka war aktive Teilnehmerin des Kulturlebens in Prag und dessen Symbiose der tschechischen, deutschen und jüdischen Elemente in den zwanzigen und dreißigen Jahren. Heute nennt man es multikulturelle Gesellschaft. Sie hat gelebt in der Mitte solcher Persönlichkeiten wie E.E.Kisch, Franz Kafka, Max Brod, Karel Capek, Jaroslav Foglar, Karl Reiner, E. Goldstücker, Norbert Fryd, Adolf Hoffmeister und anderen, die sie regelmäßig getroffen hat.
In Deutschland ist sie bei den Lesern mehr und besser bekannt als bei uns. Man sagt nicht umsonst, dass man daheim kein Prophet werden kann. Sie ist Ehrenbürgerin von Prag und sagt, dass falls sie sich selbst eine Staatsbürgerschaft aussuchen konnte, wäre es die Prager.
In ihrer Prager Wohnung hat sie vier Auszeichnungen: Eine Verdienstmedaille von Präsident Vaclav Havel, den deutschen Literaturpreis Schillers Ring, Goethes Medaille aus Weimar und den großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
In diesem Jahr wird anlässlich der Prager Buchmesse im Verlag Labyrint ein weiteres Buch von Lenka Reimer „Cekani - Das Warten“ herausgegeben, welches bereits in Deutschland an der Leipziger Buchmesse unter dem Titel „Das Geheimnis der nächsten Minuten“ vorgestellt wurde.
Man konnte und sollte noch viele Zeilen über Lenka Reiner schreiben, aber am besten ist es ihre Texte sprechen zu lassen. Bei deren Lektüre werden sie uns, den Lesern wunderschöne Zeit bescheren.
Ich danke Lenka Reiner für dieses Geschenk und wünsche den Lesern viel Vergnügen.

Milan Dubsky 


Das Traumcafé einer Pragerin


Wohin, so frage ich mich oft, wenn ich durch mein Prag streife, wohin sind die Kaffeehäuser verschwunden, in denen man über einer Tasse schwarzen Kaffees - den so genannten türkischen gab es bei uns, Gott sei Dank, überhaupt nicht - einen halben oder beinahe den ganzen Tag diskutieren und Pläne schmieden, viel erfahren, interessante Menschen beobachten oder auch kennen lernen, Freundschaften schließen oder gar eine große Liebe finden konnte. Und weil es sie nicht mehr gibt, diese Zufluchtswinkel ferner Jahre, spinne ich jetzt gern an einem ganz persönlichen Prager Traum.
Irgendwo in dem schleierhaften blau-grauen Dunst über den von Grünspan bezogenen Kuppeln und den gestrengen Kirchtürmen, glaube ich in solchen Augenblicken zu wissen, gibt es ein Café mit vielen Tischen, und von jedem kann man hinunterblicken in unsere Stadt, und die das tun, haben hier fast alle einmal gelebt. Und ich habe sie gekannt. Gewiss, manche nur aus Büchern – aus von ihnen geschriebenen Büchern oder aus solchen über sie -, manche nur von Bildern, andere durch Musik. Einige standen mir nahe, die habe ich gut gekannt, war mit ihnen befreundet und bin es auch, trotz der kosmischen Entfernung zwischen uns, sozusagen weiterhin geblieben. Die leben mitunter des Himmels Tagblatt beiseite und beobachten mich von ihrem luftigen Stammcafé aus. Manchmal schütteln sie dabei erstaunt oder missbilligend den Kopf, können nicht verstehen, wenn ich mich in etwa stürze, das ihnen, da sie sich ja nicht mehr unter uns bewegen, übertrieben oder gar nutzlos erscheint, halten mir aber dennoch den Daumen, damit es gelingt.
Oder sie raten mir – und das geschieht immer häufiger -, lieber etwas kürzer zu treten nach all kaum fassbaren sturzartigen Veränderungen. Ich sollte mich schon etwas zurückhalten, meinen sie, es gibt doch so viele neue, begabte Akteure...
Wäre ich gläubig, könnte ich meine Freunde hoch oben in dem überirdischen Kaffeehaus als eine Art Schutzengel ansehen. Allerdings die Personen, die mein Traumcafé frequentieren, hatten, so lange sie unter uns weilten, mit solchen himmlischen Wesen kaum etwas gemein. Aber wer weiß!
Übrigens – Schutzengel für mich? Welcher Gott könnte sie mir denn schicken und in welcher Sprache sollte ich ihn anrufen? Im Deutsch meiner Mutter, im Tschechisch meines Vaters oder im Hebräisch meiner Vorfahren?
Aber vielleicht bedient sich der liebe Gott an der Schwelle des künftigen Jahrtausends einer neuen, uns noch unbekannten Sprache, um alle Bewohner der Erde über ihre unvernünftigen künstlichen Grenzen hinweg einem ertragbaren Miteinander zuzuführen. Ein solcher Gott wäre fürwahr unser Erlöser. In Prag hat er sich noch nicht gezeigt.
Und so widerfährt es mir, dass ich mich, in Bedrängnis geratend, mitunter bittend oder gar beschwörend an die Stammgäste des Traumcafés wende: Ihr dort irgendwo, so helft mir doch, ihr wisst ja, was ich jetzt tun oder entscheiden muss. Soll ich oder soll ich nicht? Sonderbar- oft weiß ich dann mit einem Mal wirklich, glaube zumindest zu wissen, was ich tun oder nicht tun soll. Also doch Schutzengel? Über einer Tasse überirdischen Kaffees? Warum eigentlich nicht.
Am Ende der dreißiger Jahre wohnte ich in der Prager Melantrichgasse Nr.7. Die Nummer 14 mit dem prächtigen Bärenportal ist das Geburtshaus des Schriftstellers Egon Erwin Kisch. Als ich in der Nr.7 mein Dachzimmer bezog, lebte im Bärenhaus noch Mutter Kisch, verehrt und geliebt nicht nur von ihren Söhnen, auch von deren breitem Freundeskreis. Wie alt wäre sie jetzt, wo doch ihr Egonek schon auf mehr als einhundertundzehn Jahre zurückblicken kann? Was würden die beiden zur heutigen Melantrichgasse sagen?
Nunmehr befindet sich hier ein feines Restaurant mit entsprechend feinen Preisen, das Restaurant Mucha heißt, mit unserem Landsmann, dem Maler Alphonse Mucha, wohl aber nur den Namen gemeint hat; ferner der Laden einer Firma mit Gesundheitskost namens Country life und gegenüber meinem einstigen Wohnhaus eine elegante kleine Cafeteria. In den letzten Vorkriegsjahren gab es dort ein Studentenhotel. Auf dem Gehsteig davor standen abends die Mädchen herum, und die häufigsten Passanten in der kurze Straße waren neben ihren Kunden Literaten, aus Hitlers Dritten Reich emigrierte Antifaschisten und Egon Erwins Prager Freunde, die alle bei Mutter Kisch Kaffee und Kuchen und, falls notwendig, auch tatkräftige Hilfe bekamen. Internationaler Tourismus? Davon träumte die Melantrichgasse damals nicht einmal.
„Für die feschen Dinger vor dem Puff bin ich mit den gestrandeten Größen und müden Kämpfern aus der Literaturbranche, die zu mir pilgern, wahrlich kein idealer Nachbar“, bemerkte Kisch einmal, als wir nach einer Veranstaltung des Bert-Brecht-Klubs in später Stunde nach Hause trabten. „Aber so ein journalistischern Grünschnabel und universeller Anfänger wirklichen Lebens wie du, sollte die Nachbarschaft mit mir entsprechend zu schätzen wissen. Lade mich also jetzt gefällig zu einer Tasse Kaffee ein.“
„Leider“, sagte ich damals, „die wäre heute wohl schon deine zweiundfünfzigste, und außerdem ist Mitternacht schon längst vorbei. Grünschnäbel müssen ordentlich schlafen.“
Obwohl der Egonek nunmehr von seinem unerreichbaren Kaffeehaustischchen auch der Meinung ist, dass ich in den Intentionen unserer Melantrichgasse, dann später des Hotel
Moderne in Versailles, in dem ich kurz vor Kriegsausbruch eine Zeitlang gemeinsam mit dem Ehepaar Kisch wohnte, und noch später in der Geborgenheit der Exilgemeinschaft in Mexiko ein „wirkliches Leben“ fertig gebracht habe? Es scheint mir wirklich ein bisschen ungerecht zu sein, wenn solche Überlegungen und gar erst die Antwort auf noch schwerwiegendere Fragen, die uns früher nicht einmal am Rande in den Sinn kamen, nunmehr mir allein überlassen bleiben. Mit der kollektiven Weisheit von einst kann man ja heutzutage keineswegs mehr zurechtkommen. Und im Traumcafé hüllen sich die Klugen von gestern in geheimnisvolles Schweigen.
Selbst als man ihm vom Prager Friedhof seinen Bronzekopf klaute, ließ mich Kisch von seinem himmlischen Café aus nichts davon wissen. So kam es, dass ich erst Wochen später bei einem zufälligen Besuch des Krematoriums und des anschließenden Kolumbariums damit konfrontiert wurde, dass nur noch die kleine Säule aus grünlich weißem Marmor mit Kischs Namen und dem seiner Frau Gisela am ursprünglichen Platz stand und dort, wo der recht geglückte Kopf aus Bronze auf uns herabzublicken pflegte, allein eine rostige Schraube aus dem steinernen Untersatz aufragte.
„Egonek“, rief ich bestürz aus, „wo hast du bloß deinen Kopf gelassen?“
„Bei den Genossen“, lautete die trockene Antwort, und in typischer Kisch-Recherche fügte er noch hinzu: “Buntmetall ist heutzutage beinahe mehr gefragt als Edelmetall. Bronze zählt zu den besten Artikeln auf dem Schwarzmarkt und dazu noch ein Kischkopf! Wenn du mehr erfahren willst, musst du dich an die kompetenten Spezialisten des internationalen Metallschieberkonzerns wenden. Habe ich dir nicht oft genug gesagt, dass du, besonders in so heiklen Angelegenheiten, nur mit stichhaltigen Informationen arbeiten darfst?“
In diesem heiklen Fall waren freilich stichhaltige Informationen selbst bei bestem Willen von keiner kompetenten Stelle zu erhalten. Als ich in einer Zeitungsnotiz meiner Empörung über diese niederträchtige Gaunerei Luft machte, wurde ich dann allerdings auf der Straße wiederholt selbst von mir unbekannten Mitbürgern angehalten und gefragt: „Hat man Ihnen schon den Kisch zurückgebracht?“ Auch meine lieben Prager!
Zurückgebracht, besser gesagt erneuert hat den Kopf jedoch erst eine gemeinsame Initiative der tschechischen Zeitschrift „Signál“ mit dem Hamburger „Spiegel“.
„Jetzt bist du also wieder komplett, Egonek, sogar ein bisschen würdevoller als vorher“, meldete ich ihm, als sein neues Metallhaupt endlich an Ort und Stelle festgemacht und feierlich enthüllt war.
„Kisch zog die Augenbrauen hoch, griff automatisch nach der nächsten, hier allerdings nur mit paradiesischen Düften gewürzten Zigarette und bemerkte nachsichtig: „Unter Ganoven fühlte ich mich bekanntlich immer in meinem Element. Da kann mir ruhig selbst mein Kopf gestohlen werden.“
„Ist ja auch passiert“, konnte nun ich trocken bemerken, “aber den nächsten wirst du dir gefälligst schon allein besorgen müssen. Eine solche Affäre reicht mir gerade.“
Etwas wüsste ich allerdings sehr gern: Kann ich den Egonek fragen, ob er im Traumcafé oder in einem der anliegenden Lokale des Elysiums auch seiner Galgentoni begegnet ist? Bei aller übermütigen Angeberei war Kisch in solchen Dingen, was seine eigene Person anbelangte, erstaunlich reserviert.
„In diesen Sachen bin ich eher für die Praxis, als fürs Theoretisieren“, meinte er.
Seine Mitmenschen pflegte er freilich ganz unbekümmert nach ihren persönlichsten Angelegenheiten auszufragen. Aber mit der Tona Sibenice, wie die Galgentoni tschechisch heißt und wie sie, als Vorbild in Wirklichkeit diesen Namen trug, von Kolleginnen, Kunden und Polizeibeamten auch genannt wurde, mit der hat es doch eine andere Bewandtnis.
„Deine Galgentoni, die bereit war, einem Mordsbuben seinen letzten Wunsch zu erfüllen und seine letzte Nacht mit ihm zu verbringen, hast du doch zur Belohnung für diese Tat in einem himmlischen Puff versetzt, Egonek. Hast du sie dort schon besucht oder sogar einmal in die Gesellschaft im Traumcafé mitgenommen?“
„Glaubst du, es würde ihr hier unter unseren Literaturveteranen Spaß machen? Die ist an anderes gewöhnt. Und so bleibt sie auch, wo ich sie untergebracht habe, und wenn ich mit der Xenia Longen, die sie als erste auf der Bühne gespielt hat, bei ihr vorbeikomme, freut sie sich sehr. Auch in deinem Traumcafé muss es so etwas wie Ordnung geben, obwohl du uns hier ganz schön zusammengewürfelt hast.“
„Ist doch mein gutes Recht. Ohne mein Phantasieren würde euer Kaffeehaus flöten gehen, du hättest längst keinen Stammtisch mehr und auch keinen Prager Himmel um dich.“
„Stimmt“, sagt der Kisch nachdenklich und winkt mir von oben zu. „Hast doch etwas von der Melantrichgasse mitbekommen.“
Meine Mutter bringe ich auch gern im Traumcafé unter. Allerdings als das schöne junge Mädchen, das ich von einem Foto kannte, welches in den Turbulenzen der Zeit leider auch verloren gegangen ist. Hochgewachsen und schlank war sie darauf, in einem langen weißen Kleid, umgürtet mit einer breiten dunklen Schärpe, die leicht gewellten blonden Haare im Nacken mit einem dunklen Band, wohl von der gleichen Farbe wie die Schärpe, fest zusammengehalten. Ihr Blick auf dieser Aufnahme war ein wenig versonnen, aber durchaus lebensbejahend. Wenn man sie genauer betrachtete, konnte man verstehen, dass der Prager Maler und Porträtist Emil Orlík und Wolfgang, der älteste der Kischbrüder, der im ersten Weltkrieg gefallen ist, mit ihr befreundet waren. Ich bin ziemlich sicher, dass sie, in ihre damalige Gestalt verjüngt, bereitwillig von der ätherischen Kaffeerunde aufgenommen wurde und mich gemeinsam mit den anderen Gästen aus weitester Ferne ein bisschen schützend, aber auch ein bisschen besorgt mahnend betrachtet.
Und so blicke ich manchmal aus meinem Stadtfenster in den grau verrauchten Himmeln und beruhige sie:
„Du musst dich, weiß Gott, nicht mehr um mich sorgen, Mutter, habe ich doch inzwischen ein Alter erreicht, das dir bei weitem nicht vergönnt war. Was ich tue oder unterlasse, kann niemand mehr in die unsichtbaren Schuhe schieben. Das geht schon lange alles auf meine eigene Kappe. Lass dir von Duschko, der mein Mann war, und von Egonek, meinem väterlichen Freund - bist du ihm nie im Kischhaus begegnet? -, erzählen, wie sie mitunter versucht haben, mich in ihre gewohnte und mir nur in gewissem Maße zusagende Lebensweise einzubeziehen und was dabei herausgekommen ist und was nicht.“
„Lenulein“, sagtest du einmal zu mir,“ ein harter Kopf ist manchmal gut, aber viel öfter beschwerlich.“ Ich hielt das damals für eine der unsinnigen Redensarten, wie
sie die Erwachsenen gegenüber jüngeren Menschen so gern von sich geben. Seither habe ich freilich meine eigenen Erfahrungen gemacht.
Während des letzten Weltkrieges habe ich in einem Pariser Gefängnis und rund zehn Jahre später zu meinem Entsetzen in einem Prager „sozialistischen“ insgesamt gut ein Jahr in Einzelhaft verbracht. Auch da habe ich hartnäckig mein Träumen nicht aufgegeben, so schwierig es auch war, nicht in Alpträumen abzugleiten.
Das Traumcafé funktionierte unter jenen katastrophalen Umständen nicht. Ich konnte die Hilfe seiner Stammgäste nicht anrufen, es kam mir auch gar nicht in den Sinn. Vielleicht hat damals ein gütiger Geist zwischen die Erde und den so genannten Himmel einen undurchlässigen Vorhang /nein, keineswegs eine Mauer!/ gezogen, damit die Untaten, die hier in den fünfziger Jahren so verheerend um sich griffen, nicht auch noch die Gefilde des Träumens erfassten.
In jener Zeit hing der Himmel nicht voller Geigen, und hätte es sie gegeben, sie wären falsch gestimmt gewesen. Das aber hätte manch einer der Kaffeehausgäste wohl nur schlecht vertragen. Ich denke da z.B. an Max Brod, den kleinen Mann mit dem leicht gekrümmten Rücken und den tiefschwarzen Augen, dem ich als Kind jedes Mal im Neuen Deutschen Theater begegnete, wenn mich meine Mutter zu einer Opernpremiere mitnahm. Die Sänger auf der Bühne, die Musiker im Orchesterraum und der Dirigent auf seinem Podest warfen ihm nervöse Blicke zu, wenn sie dem Publikum für den Beifall dankten. Applaudierte auch Brod? War er nicht gleich nach dem letzten Ton davongeeilt? Und falls er dies tat, wollte er vielleicht noch in der Morgenausgabe des Prager Tagblatt seine Kritik unterbringen? Denn für die Prager Theaterliebhaber war eine Rezension ihres Max Brod in ihrem Prager Tagblatt entscheidend: was ihm gefiel, sprach dann meistens auch sie an. Was er ablehnte, konnte auch ihnen kaum zusagen.
Ich bin mit ihm, dem späteren Dramaturgen des Habimah-Theaters in Israel, nur einmal ganz flüchtig in Kontakt gekommen.
„Sie werden sich daran wohl kaum erinnern, Herr Brod“, wage ich nun, in dieser
Lichtjahrentfernug jenes für ihn durchaus bedeutungslose und für mich damals sonderbar beunruhigende Gespräch aufzufrischen, bei einer Schülerakademie des Stephansgymnasiums, das ja auch Sie lange vorher besucht haben, hat mich Ihnen mein Klassenlehrer Professor Dr. Oscar Kohn als das talentierte Mädchen vorgestellt, das Ihnen auf der Bühne aufgefallen war. Und so hat Sie gefragt, ob Sie nicht etwas für mich tun könnten, weil ich wegen der schlechten finanziellen Lage meiner Eltern zu seinem Bedauern nicht weiterstudieren konnte und allem Anschein nach, so meinte er, fraglos künstlerisch talentiert sei.
„Vielleicht“, haben Sie damals gesagt und mich mit Ihren tiefschwarzen Augen von oben bis unten genüsslich gemustert, „vielleicht kommen Sie einmal bei mir vorbei, kleines Freulein. Sie finden mich so gut wie täglich in der Redaktion. Vielleicht komme ich...“, und Sie haben den Satz nicht beendet.
„Das schlag dir gefälligst schnell aus dem Kopf“, entschied meine Mutter resolut und keinen Widerspruch duldend, als ich ihr von dieser „phantastischen Chance“ berichtete. “Solche offenen Sätze sind für junge Mädchen sehr gefährlich.“
Und so endete meine künstlerische Karriere, noch ehe sie begann, und meine Bekanntschaft mit Max Brod kann ich erst jetzt, unbelastet von erdgebundenen Vermutungen, nach Wunsch und Belieben fortsetzen.
„Ein Motiv aus der Sinfonietta von Leoš Janáček, Herr Brod, für dessen Weltruf Sie sich mit so bewundernswerter Energie und Ausdauer eingesetzt haben, erklingt nun aufgrund einer Verfügung von Präsident Havel bei der Begrüßung hochgestellter Gäste auf dem Burhof des Prager Hradschin. Haben Sie sich so etwas in den Jahren, als Sie dem –Schlauen Füchslein- zum Durchbruch auf den Opernbühnen von Rang verhelfen, auch nur vorstellen können?“
„Ach“, sagt Brod sichtlich erfreut, „das ist mir bislang entgangen. Also keine heroisch schmetternden Klänge mehr, sondern vollblütige Musik, die aus Volksweisen schöpft. Interessant. Prag ist demnach weiterhin oder, besser gesagt wiederum sehr interessant.“
Und er blickt sich suchend um, als wolle er unter den plaudernden oder versonnen in die Ferne blickenden Traumcafé-Gästen die strahlend weiße Löwenmähne des mährischen Komponisten ausmachen, um ihm diese erfreuliche Nachricht mitzuteilen. Aber wer weiß, vielleicht frequentiert Leoš Janáček ein anderes, vornehmlich von Musikern besetztes Elysium und schmunzelt dort längst zufrieden über diese ihm unverhofft zugekommene Ehre.
Als es die Prager Kaffeehäuser mit ihren Stammtischen und verständnisvollen Herren Oberkellnern noch hier unten in unseren Straßen gab, als man noch wusste, welchen Kreis von Literaten man im Café Metro, in der Unionka oder etwa im Nationalcafé antreffen konnte, als man nicht fehlging, wenn man die gemischte Runde tschechischer und deutschsprachiger Schriftsteller im Café Arco suchte- da konnte man auch noch der schlanken, in den Schultern etwas zusammengesunkenen Figur eines Prager Autors begegnen, der in der angeregt lärmenden Gesellschaft eher zu den stillen Teilnehmern zählte, nicht regelmäßig, sondern nur ab und zu dabei war, oft kränkelte und nicht in Prag weilte. In meinem Traumcafé hat Franz Kafka jedoch einen ständigen und festen Platz. So kann ich auch mit ihm, der in die ewigen Gefilde entwich, als ich noch ein Kind war, ohne weiteres ein kleines Gespräch aufnehmen.
„Haben Sie schon bemerkt, Herr Kafka, dass man in Prag jetzt Ansichtskarten mit Ihrem Abbild verkauft?“
„Wirklich?“ Ein dünnes Lächeln erscheint auf dem blassen Gesicht.“ Aber doch auch den Herren Rilke, Werfel und anderen?“
„Gewiss, aber der Schlager , verzeihen Sie, der Schlager sind eben Sie. Das ist nicht zu übersehen. Übrigens, wie gefällt Ihnen der Altstädter Ring in seiner neuen Aufmachung, so ein bisschen als Jahrmark und Rummelplatz mit elektronisch dröhnender Musik und einem weiß-goldenen Bummelzüglein?“
„Nun“, kommt zögernd und nachsichtig beschwichtigend die Antwort, „Gebäude sind ja recht gut instand gesetzt. Zumindest was man so von hier aus sehen kann. Wie sie innen beschaffen sind, entzieht sich freilich meiner Kenntnis.“
Wurden seine Augen dabei noch um einen Schatten dunkler? Oder bilde ich mir das bloß ein? Er langt nach einem Glas mit kristallklarer Flüssigkeit /Wasser im Himmel? Wo bleibt der Wein?/, nimmt einen ordentlichen Schluck, sieht gleich fröhlicher aus, und so wage ich noch eine weitere Mitteilung:
„In letzter Zeit sind Sie zu einer Art Wahrzeichen von Prag geworden, Herr Kafka. Nein wirklich, das springt einem in die Augen. Macht es Ihnen Spaß, dass Sie nun von jungen Mädchen aus Italien und Spanien, Deutschland und Amerika sozusagen auf dem Herzen getragen werden? Haben Sie gesehen, wie Ihr Porträt auf weißen und seegrünen, himbeerfarbenen und azurblauen T-Shirts auf touristischen Busen wippt? Aber selbst das genügt Ihren Verehrerinnen und Verehrern an der Schwelle des 21.Jahrhunderts nicht. Aus Ihrer Stirn, hinter der Sie so viele Fragen quälten, aus Ihrem oft so schmerzenden Kopf wächst, mit Verlaub, auch noch die Silhouette des Hradschin. Die Burg, zum Glück nicht auch noch das Goldene Gässchen, in dem Sie ja ein bisschen zu Hause waren.“
Keine Antwort.
Zu meinem Bedauern und leichter Bestürzung hat sich mein erdachtes Zwiegespräch inzwischen in einen Monolog verwandelt. Im Traumcafé ist es still geworden. Man hört mir zu, Franz Kafka schweigt. Man sieht ihm allerdings an, dass er interessiert lauscht. Seine Ohren an dem kurz geschorenen Kopf haben sich leicht rot verfärbt.
„Entschuldigen Sie“, sage ich, nun lieber zum Schluss kommend, „dass ich von so banalen Dingen rede, die Ihnen im übrigen wohl schon längst bekannt sind, die Aussicht von oben ist ja trotz aller sündhaften luftverpestenden Verstöße hier unten, immer noch ungewöhnlich klar. Sie werden jedoch gewiss verstehen, dass einem der in Prag so lange ungewohnte Trubel manchmal ein bisschen über dem Kopf zusammenschlägt. Aber andererseits: eigentlich ist es doch schön, wenn sie noch ein Lieblingstrikot mit Ihrem Konterfei mit nach Hause nehmen, oder?“
Abermals keine Antwort.
„Die Kaffeehäuser sind aus Prag – so wie Sie sie kannten – beinahe ganz verschwunden, aber Kafka ist hier neu eingezogen“, sagte mir unlängst ein Besucher aus Frankreich, „ was übrigens nicht sonderlich erstaunlich ist in dieser magischen Stadt.“
„Erstaunlich und schwer erklärbar.“
Ich stutzte. Diese warme Stimme mit dem leicht slawisch klingenden Akzent habe
ich vor nicht allzu langer Zeit noch hier unten, in unser aller Prag, vernommen. Am Telefon, in einem Vortragsaal, an einem gemeinsamen, an einem gemeinsamen Mittags- oder Abendtisch.
„Manchmal würde sich Franz Kafka allerdings nicht wenig wundern, wie man ihn entweder wegzudenken oder gar zu interpretieren wagte.“
Und schon weiß ich, wenn ich lausche, würde diesem neuen Besucher meines Traumcafés wahrlich viel lieber noch im irdischen Café Louvre oder in seinem Wohnsitz auf der Prager Barrandovhöhe zuhören.
„Edo“, rufe ich, denn der Neuankömmling ist niemand anderer als der Prager Unruhegeist und Germanist, Diplomat und Widerstandskämpfer, Häftling, Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands, Exulant und Prorektor der Karlsuniversität, Ehrenvorsitzende der tschechischen Goethe-Gesellschaft - wie konnte bloß in einem Leben so viel widersprüchliches, Gutes und Schlimmes enthalten sein? - Professor Eduard Goldstücker. „Edo“, wiederhole ich, „haben dich die Alteingesessenem auch gebührlich willkommen geheißen?“
„Und ob“, in den dunklen Augen blitzt es fröhlich auf. „Die Begrüßung war hier spontan und herzlich. Kafka ist aufgesprungen und mir entgegengeeilt. Werfel hat mir seinen angestammten Sessel mit einem bequemen Wolkenpuff als Rückenkissen angeboten – weil ich es auf Erden so lange ausgehalten habe -, Jaroslav Seigert und František Langer freuen sich offensichtlich über den frischen Prager Zuwachs. Alle bedrängten mich, wollten einen authentischen Bericht über unsere Kafka-Konferenz von 1963 in Liblice hören, als ob sie gestern stattgefundene hätte und sie nichts oder nur wenig darüber wussten.“
„Dabei ist das ja langsam schon fast vierzig Jahre her, da hatten sie in der himmlischen Ruhe noch reichlich Zeit, die einzelnen Beiträge abzuwägen und als zu leicht oder zufriedenstellend zu befinden.“
„Das geschah ja hier oben auch. Max Brod amüsiert bis heute, dass gewisse Dummköpfe contrarevolutionäres Gedankengut zwischen den Zeilen in Kafkas Werk entdeckt zu haben glaubten.“
„Und Franz Kafka selbst?“ Es entgeht mir nicht, wie sehr ihn Goldstückers Worte
interessieren. Er schaut jetzt nicht hinunter in seine Heimatstadt, nippt an dem Glas mit dem durchsichtigen Getränk, blinzelt ein ganz klein wenig mit den Augen, vielleicht weil er sich so sehr konzentriert, stützt sein Kinn in der schlanken Hand und horcht.
„So würde man in Prag fragen.“ Ich vermeine einen leichten Vorwurf in Goldstückers Stimme zu erkennen. „“Im Traumcafé herrschen andere Zeit- und Maßstäbe, das habe ich bereits erkannt. Übrigens – Balk und Kisch wollten von mir etwas über dich hören, und Weiskopf behauptet, dich von hier aus vor kurzem bei der respektvollen Besichtigung von Prager Manuskripten im Marbacher Literaturarchiv ertappt zu haben.“
„Das war ein tolles Erlebnis. Stell dir vor, Edo, ich konnte ein Blatt der Handschrift von Kavkas >Proces< berühren, sorgfältig geschrieben, mit dünnen Haar- und kräftigen Schattenstrichen. Dabei habe ich – mir Verlaub, Herr Kafka – feststellen können, dass ich mit diesem Großen drei Dinge gemein habe.“
„Geht deine Phantasie nicht wieder einmal ein bisschen mit dir durch?“
„Nein. Diesmal wirklich nicht. Hör bitte zu: Erstens sind wir beide sozusagen waschechte, an Ort und Stelle geborene Prager. Zweitens: Kafka schrieb seine erste Version in Hefte – das ich tue ich auch. Und schließlich drittens: ich konnte feststellen, dass er mitunter ein Paar Worte stenographierte, vielleicht um schneller vorwärts zu kommen. Und das mache ich auch, und ich war stolz, dem Herrn Präsidenten des Literaturarchivs diese Stellen vorlesen können.“
„Bist du sicher, dass das auch stimmte?“ Mein Freund Goldstücker ist ein wenig skeptisch.
„Durchaus. Auf dem Blatt gibt es nämlich die handschriftliche Übertragung der stenographierten Worte aus der Feder Max Brods. Und so wurde gleich nachgeprüft, ob ich nicht geschwindelt habe.“
Bei diesen Worten blicke ich abermals zu Franz Kavka hinüber. Er hat den Kopf gehoben, nimmt von neuem einen Schluck und lächelt ein bisschen. Hat also alles gehört und verübelt mir meine Indiskretion und den gewagten Vergleich offenbar nicht.
Meinen Mann, den aus Jugoslawien gebürtigen Schriftsteller Theodor Balk, habe ich , als er nach langer Krankheit starb, selbstverständlich auch in meinem Traumcafé untergebracht, in der Hoffnung, er werde sich dort in Gesellschaft seines guten Freundes Egon Erwin Kisch und anderer Kollegen bald von den irdischen Strapazen erholen. War es doch für uns beide nicht einfach, nach den Emigrationsjahren endlich nach Europa zurückkehren zu können, hier aber keine Familie und auch kein Zuhause mehr zu finden. Nur die Städte, das wisst ihr ja, ihr beiden dort irgendwo am luftigen Cafétisch, die Städte gab es noch. Belgrad, grausig zerbombt, Prag grausig friedvoll und weiterhin schön. Als ob nichts passiert wäre. Oder vielleicht, als ob seine Erhabenheit und liebliche Schönheit alles Unglück der Menschen erbarmungsvoll verdecken wollte.
„Die Misere hat ja auch schon gereicht“, lässt sich Kisch vernehmen und umfängt
seine Stadt mit einem sehnsüchtigen Blick, „jetzt sollte man in den Prager Straßen wieder leichten Herzens flirten, sich in den Weinstuben sorglos betrinken und überhaupt normal leben können. Ich habe ja leider von hier aus nur mehr das Nachsehen, genauer gesagt ein blutloses Zusehen.“
„Na, na“, widerspricht sein Jugendfreund, der rundliche Autor des „Braven Soldat Schwejk“, Jaroslav Hašek, „lass das Gewinsel. Die dort unten sind noch lange nicht aus dem Schlamassel heraus, die werden uns vielleicht oft um dieses Lokal beneiden. –Wo bleibt denn, gelobt sei die Unerschöpflichkeit, der Ober mit dem nächsten Trunk?“ 
Vybráno z knihy Kavárna nad Prahou (vydalo nakladatelství Labyrint).
Z německého originálu Lenky Reinerové přeložila Jana Zoubková.

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    Übersetzung: Ctirad Pánek

Tento článek byl v Pozitivních novinách poprvé publikován 19. 03. 2007.